Zen Street Retreat in den Strassen von Zürich - Erfahrungsbericht



Seitdem 1996 das erste Strassen-Retreat von Roshi Bernie Glassman durchgeführt wurde, hat das Lassalle-Haus, Heimat der Glassman-Lassalle-Zen Sangha, für die Organisation der jährlichen Retreats in den Strassen von Zürich die Verantwortung übernommen.


Unterstützt von unseren Roshi Niklaus Brantschen und Pia Gyger, wurden die Retreats seit 1997 zunächst
von Sensei Anna Gamma, danach von Sensei Marcel Steiner und Margaritha Gnägi geleitet. Nach dreijähriger Pause fand vom 12.-16. Mai 2010 wieder ein Strassen - Retreat in den Strassen von Zürich statt. Diesmal geführt von Sensei Genro Grover Gauntt und Jürgen Lembke.


In den Vorbereitungshinweisen, welche wir den Teilnehmenden zusandten, beschrieben wir die diesen Anlass so:


Ein Strassen-Retreat ist ein Sprung ins Ungewisse; Eine Chance über unser kleines Selbst hinauszusehen, vorgestellte Grenzen zu überschreiten und ein Beginn Barrieren aufzulösen. Es ist die direkteste Art Verzicht zu erfahren.


Nachdem die Gruppe ausnahmsweise bereits am Mittwochabend im Lassalle-Haus zusammenkam, gingen wir wie geplant am Auffahrtstag auf die Strasse, ohne Geld und nur mit den Kleidern unterwegs, die wir am Leib trugen. Angesichts der Kälte und dem wiederkehrenden Regen froh um jede Kleidungsschicht.

Das Strassen-Retreat begannen wir mit einer Meditation unter dem Dach des Platzspitz-Pavillon. Später, im Vorzimmer der Bahnhofhilfe,erläuterte Genro der Gruppe die Grundregeln für die bevorstehenden Tage: wach

und achtsam sein, auf die Gruppe Rücksicht nehmen und insbesondere darauf Acht geben, dass unser zugeteiltes „Gspänli“ den Anschluss an die Gruppe nicht verpasst.


Wir verpflegen uns in Suppenküchen und bitten um Geld oder Nahrung, wenn die Suppenküchen geschlossen
sind. Wir übernachten im Freien oder in verlassenen Unterkünften,…


Da an Sonn- und Feiertagen die meisten Institutionen für Randständige geschlossen sind, wollten wir herausfinden, ob wir im Solino, das nur an diesen Tagen geöffnet ist, Speis und Trank erhielten. Wir erschienen
kurz vor Feierabend und wurden durch die Offenheit und Hilfsbereitschaft der beiden freiwilligen Helferinnen überwältigt und darüber hinaus mit einem warmen Getränk versorgt. Wir unterhielten uns über das Strassenretreat und die Übernachtung im Freien. Nachdem unsere Glieder wieder aufgewärmt waren, erhielten
wir beim Abschied eine Stapel Kartonschachteln, Schnur und Toilettenpapier mit auf den Weg und suchten einen geeigneten Schlafplatz für die Nacht. Diesen fanden wir im Entsorgungsbereich einer Zürcher Kantonsschule. Wir deponierten die unterwegs gesammelten Kartonschachteln und machten uns nochmals auf, um eine warme Mahlzeit auf die Nacht zu finden. Diese servierte man uns im Café Yuka, eine wunderbare Suppe und Brot. Darüber hinaus wurden wir vom Chef warmherzig über das Angebot informiert. Wie schon zuvor wurde unser Vorhaben, die eigene spirituelle Praxis durch diese Tagen auf der Strasse, mit sozialem Engagement zu verbinden mit sehr viel Offenheit erwidert. Diese starke Erfahrung machten wir in den kommenden Tagen ausnahmslos überall, wo wir um Unterstützung baten. So wurde ohne viele Fragen ein Teil der Gruppe im Speak-Out gleich in die Zubereitung des Essens einbezogen, während sich der Rest mit den anderen anwesenden Gästen unterhielt. In der K&A Selnau, wo Stadtzürcher Drogenabhängige in
geschützter Umgebung konsumieren können, erhielten wir (nach Rücksprache des Chefs mit seinem Team und den anwesenden Gästen) nicht nur Einlass, sondern ein Frühstück mit Kaffee, ergänzt mit dem Tipp einer Praktikantin, dass wir doch noch im Treffpunkt City vorbeischauen sollten. Sie werde uns gleich noch
ankündigen…


Wir bezeichnen uns nicht als Obdachlos, wir leben einfach für einige Tage auf der Strasse, im Vertrauen
auf die Grosszügigkeit der Strasse, welche uns beherbergt.


Um unsere Meditation und die Rezitationen zu vollziehen, besuchten wir am Freitag die City-Kirche „offener St. Jakob“ um nachzufragen, ob dies möglich sei. Es war möglich, nachdem zunächst hundert Stühle aufgestellt waren, welche am Abend für eine Podiumsdiskussion benötigt wurden. Die Sigristin, erfreut über die unerwartete Unterstützung. Sie lud uns ein, am freitäglichen Mittagstisch der „Sans-Papier“ im Kirchgemeindehaus teilzunehmen. Abgesehen von der Mahlzeit, konnten wir in den Gesprächen mit diesen in der Schweiz gestrandeten jungen Menschen Zeuge sein, wie trotz der widrigen Umstände, verschiedene „Moderatoren“ ihre Stärken einbrachten. Zum Beispiel indem ein Asylsuchender mit bereits guten Deutschkenntnissen andere beim Lernen unterstützte.

Zurück im offenen St. Jakob, fragte mich die Dame, die gerade Präsenzdienst hatte, ob wir eigentlich Obdachlose spielen würden. Mein erster Impuls war zu verneinen. Andererseits kam mir das Bild von Kindern, die innig damit beschäftigt sind eine Hochzeit zu zelebrieren. Wer schon mal Zeuge eines solchen Spiels wurde, weiss, dass dabei weniger das Spiel als vielmehr der innige Versuch nachzuempfinden zu Grunde liegt. In diesem Sinne bejahte ich denn auch die ursprüngliche Frage. Ja, in gewisser Weise tun wir in kindlichem
ernst so als ob. Jedoch erschliessen sich dadurch Erfahrungs- und Begegnungsmöglichkeiten, die ansonsten derart nicht entstünden da wir oft in Archtypen wie dem „Gönner“, dem „Politiker“ oder dem „Stiftungsrat“ befangen sind.


…wir treffen uns mehrmals täglich um uns auszutauschen und die Liturgie «Tor des Süssen Nektars»
zu rezitieren, in welcher es um die Nährung der hungrigen Geister geht.


Zürich ist eine lebhafte Stadt. Ständig zu Fuss unterwegs, sahen wir ihr direkt ins Gesicht. Sei es in den besuchten Herbergen, auf unserem Gang durch den Kreis 4 mit seinen Vergnügungslokalen, oder beim
Betrachten der eilenden Menschen beim Bahnhof Enge auf ihrem Weg in die Büros. Alle, die Menschen mit
geordnetem Leben und die Randständige schienen rastlos. Und wir? Wir nahmen uns eine Auszeit. Die liturgischen Texte, die wir rezitierten halfen mir dabei. Wann immer ich die Regeln der Zen Peacemaker im Einklang mit der Gruppe sprach, stimmte ich mich neu ein. Zu Beginn nahmen wir Abstand von Geiz, Wut und
Unwissenheit, die unsere Handlungen, Aussagen und Gedanken lenken. Sprachen die dreifache Zuflucht und gelobten für diesen Tag diese drei Grundsätze zu beherzigen: Nicht-Wissen, also alles was uns begegnet unvoreingenommen anzunehmen; Zeuge-Sein, in dem wir uns von Freud und Leid des Universums berühren lassen; Liebende Handlung, zur Heilung aller Schöpfung. Am Samstag feierten wir das Tor des süssen Nektars unter der Brücke beim Lettenareal, wo ich vor 15 Jahren, als dort noch die offene Drogenszene war, die Hölle auf
Erden sah. Dieses alte Ritual lädt dazu ein, sich mit allen guten Kräften aller Sphären und Zeiten zu verbinden, in der Absicht alle Not und Süchte und den tiefsten inneren Hunger zu stillen – den eigenen, wie den jedes Wesens.


Dies ist eine kraftvolle Übung des Nicht-Wissens, in dem das unvorhersehbare Leben auf der
Strasse der eigentliche Lehrer ist.


Nicht zu wissen, wie es weitergeht, fällt vielen normalerweise nicht leicht. Wir gingen damit in diesen Tagen gut um. Wenn wir nicht weiterwussten, fragten wir und bekamen wertvolle Hinweise von den „Strassen-Profis“.
Sie wussten mit Bestimmtheit wo wir Essen oder etwas Wärme tanken konnten. Überhaupt kam mehrmals die Frage auf: „Wann beginnt eigentlich das Strassen-Retreat?“ Nun, wir waren mitten drin, bloss der erwartete Mangel stellte sich nicht ein. Ist ein Strassen-Retreat eine einfache Übung? Wie liesse sich ein Retreat in
den Führungsetagen bewerkstelligen? Würde ich mich weiter mit allen fühlenden Wesen verbinden, oder mich den Fakten des Marktes unterordnen, meine Boni einstreichen? Im Vorfeld hatte ich immer wieder Phasen in denen die Vorstellung auf der Strasse zu leben und um etwas zu bitten, gemischte Gefühle hervor rief, da ich doch Haus und Arbeit habe. Einige von uns machten starke Erfahrungen, fällten schliesslich einen nötigen Entscheid für den eigenen Weg, realisierten, dass das Leben kein systematischer Kraftakt sein muss und sich Unvorstellbares einstellt, wenn der Zeitpunkt stimmt. Auch ich wurde überrascht. Beim Apéro im Anschluss an die Podiumsdiskussion zur Situation der „Sans-Papier“, unterhielt sich Doris Fiala mit einem halben Dutzend abgewiesener Asylsuchender, welche sie bedrängten eine Lösung für ihren Status in der Schweiz zu erwirken. Ich beteiligte mich am Gespräch und wurde Zeuge, wie Frau Fiala versprach, eine Delegation der Sans-Papiers persönlich zu empfangen. Die Gruppe hatte sich zerstreut und ich fragte mich gerade, wie meine Aussage, dass wir es uns nicht leisten sollten junge Menschen während ihrer Blütezeit in Notunterkünften unterzubringen, angekommen ist. Ich wurde an meiner Schulter angetippt und Frau Fiala bat mich, an dem geplanten Treffen teilzunehmen. Ich werde teilnehmen.


Es ist eine Zeit inniger Vertrautheit, ein Eintauchen in einen Lebensaspekt, den wir nur selten
betrachten, worin wir spirituelle Praxis und soziales Bewusstsein verbinden.


Diese wenigen Tage, welche wir zu neunt gemeinsam auf der Strasse verbrachten, haben mich viel Nähe
erfahren lassen. Die Gespräche unterwegs und die Austausch - Runden weckten den Eindruck ein Organismus zu sein, dass wir uns aufeinander verlassen und einlassen können. Die oft kurzen Kontakte mit Menschen, die wir auf der Strasse trafen sowie spontan ausgetauschte Gesten des Wohlwollens haben diese Grunderfahrung noch verstärkt. So bewahrheitete sich, was wir im Gate of Sweet Nektar gemeinsam rezitierten. Die Verse: „Being one with the Buddha, the Darma and the Sangha in the ten directions”, bekamen einen tieferen Gehalt. Die Verbundenheit mit der Welt und den Geschöpfen haben bei mir erneut ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit hervorgerufen. Etwa gegenüber meinen Lehrer Niklaus, der mich nicht nur auf dem langen Weg nach Innen begleitete, sondern durch sein Vorbild dazu beitrug, mich für die Welt einzusetzen; Innige Herzensnähe aber
auch gegenüber meiner Partnerin und meinen Kindern. Verbunden fühle ich mich auch mit allen Freunden und Bekannten, die einen finanziellen Beitrag an die Institutionen geleistet haben, indem sie unserer Bitte im Vorfeld des Strassen-Retreats nachgekommen sind und etwas für die „Mala“ gespendet haben. Ihnen und jenen, die mit ihren guten Wünschen und Gedanken diese Tage mitgetragen haben, bin ich von Herzen dankbar. Die Verbindung von spiritueller Praxis und sozialem Engagement lässt sich nicht einfach machen. Sie entsteht einerseits durch Gelassenheit und indem wir uns berühren lassen. Ein Wort von Meister Eckehart begleitete mich diese Tage:


Es gibt Leute, die Frieden suchen in äusseren Dingen,
sei es an Stätten, in äusseren Lebensweisen, bei Leuten oder in guten Werken.
Dies alles gibt keinen Frieden.
Aber was sollen wir dann tun?
Man soll zuerst sich selber lassen, dann hat man alle Dinge gelassen.


Dieses Sein-Lassen, so möchte ich anfügen, gebiert unzählige Möglichkeiten für Heilung, Versöhnung und Anteilnahme.


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